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Kilian Jornet – States of Elevation

Manchmal fragen wir „warum?“ – in der Annahme, die Antwort würde eine Wahrheit offenbaren, die wir selbst niemals erahnen könnten. Doch Kilian Jornet, der vielleicht größte Ultra-Trailrunner aller Zeiten, lässt das Monumentale fast beunruhigend einfach klingen.

Warum einen Berg nach dem anderen besteigen, warum den eigenen Körper immer tiefer in Schmerz und Erschöpfung treiben, warum all das weitermachen, wenn man mit 37 Jahren niemandem mehr etwas beweisen muss?

„Ich mache es, weil ich neugierig bin, ich diesen Erkundungsdrang verspüre und ich mich gern teste“, sagt Kilian. „Ich habe schon vor langer Zeit gemerkt, dass, wenn ich auf dem Gipfel eines Berges stehe, von dem ich lange geträumt habe, ich immer nach neuen Gipfeln, neuen Routen, neuen Übergängen suche. Ich glaube, das ist etwas, das ich noch lange tun werde.“

Diesen September wird Kilian versuchen, alle 14.000-Fuß-Gipfel der USA (ohne Alaska und Hawaii) zu besteigen. Dieses Unterfangen allein ist schon extrem, aber Kilian scheint das noch nicht zu reichen. Er will die gesamte Reise allein mit Muskelkraft bestreiten, was bedeutet, dass er mit dem Fahrrad von Besteigung zu Besteigung fährt. Statt also zwischen den Klettertouren zu pausieren, wird er etwa 3.200 Kilometer Rad fahren – eine Strecke, die mit der der Tour de France vergleichbar ist.

Er nennt das Projekt States of Elevation, und er ist bestens dafür ausgerüstet. Trek stellt ihm zwei individuell lackierte Bikes zur Verfügung: ein Madone für die langen Straßenabschnitte und ein Checkpoint für die legendären Schotterstrecken des amerikanischen Westens, beide ausgestattet mit SRAM-Komponenten. 

Kilian ist mit extremen Herausforderungen bestens vertraut – eine beruhigende Tatsache angesichts des Ausmaßes seines Vorhabens. So bestieg er den Mount Everest innerhalb einer Woche gleich zweimal ohne zusätzlichen Sauerstoff und stellte darüber hinaus Rekordzeiten für die Besteigung von berüchtigten Gipfeln wie dem Denali, dem Mont Blanc und dem Matterhorn auf. Ähnlich wie bei States of Elevation bestieg er 2023 innerhalb von acht Tagen alle 177 Dreitausender der Pyrenäen, und im Sommer zuvor in nur 19 Tagen alle 82 Viertausender der Alpen (ein weiterer Rekord) – wobei er auch diese Aufstiege mit dem Fahrrad miteinander verband.

Jahr: 2023
Fotograf: David Ariño
Bildunterschrift: Kilian auf dem Gipfel des Pica d'Estats, dem letzten Gipfel seines Projekts, alle 3.000er der Pyrenäen zu verbinden

Das bedeutet aber nicht, dass States of Elevation einfach sein wird – und genau darum geht es ihm. Wie wird er mit den Bedingungen zurechtkommen? Er weiß es selbst noch nicht. Er könnte es sowohl mit sengender Hitze als auch mit heftigen Schneestürmen zu tun bekommen. Hinzu kommen die enormen Distanzen und die hohen körperlichen Belastungen – ganz zu schweigen von den dunklen Gedanken über Sinn und Wert der eigenen Existenz, nachdem man sich zu lange ausschließlich von Leid ernährt hat.

Die meisten Menschen würden ein solches Unterfangen mit einer Portion Angst angehen. Kilian jedoch begegnet der Herausforderung mit stoischer Ruhe und aufrichtiger Neugierde.

„Nach all den Jahren habe ich gelernt, dass man nicht alles kontrollieren kann. Man muss aber bereit sein, sich anzupassen“, sagt er. „Das ist das Wesen solcher Abenteuer: nicht Probleme zu vermeiden, sondern bereit zu sein, ihnen zu begegnen. Ich versuche, das gesamte Projekt in Abschnitte und Etappen zu unterteilen, damit Meilensteine leichter erreicht werden können und man sich nicht schon am Anfang von den Ausmaßen überwältigt fühlt. Außerdem werde ich versuchen, mich so gut wie möglich auf die Hitze und die Kälte vorzubereiten. Aber was auch immer passiert, ich bin mir sicher, dass es ein großartiges Abenteuer wird.“

Da Kilian über recht wenig Radsporterfahrung verfügt, könnte das lange Sitzen im Sattel der schwierigste Teil seiner Unternehmung werden. Ganz allein wird er sie jedoch nicht bestreiten: Immer wieder werden ihn Familienmitglieder und bekannte Größen aus der Ultra-Endurance-Szene begleiten. 

Und natürlich ist die Landschaft seine ständige Begleitung. Kilians Inspiration für diese Reise ist der amerikanische Westen selbst. Drei Mal hat er bereits am berühmten Western States Endurance Run teilgenommen, einem 100-Meilen-Lauf durch die Sierra Nevada, den er 2011 gewann. Nach der diesjährigen Auflage des Western States Endurance Run bat er seine zahlreichen Follower um Vorschläge, wie er die Region weiter erkunden könne. Er erhielt viele interessante Anregungen und beschloss: Warum nicht einfach alles machen?

Jahr: 2022
Fotograf: Nick Danielson
Bildunterschrift: Kilian Jornet beim Hardrock 100

„Die Landschaften hier verbinden wilde Natur mit Kultur, Geschichte und Gemeinschaft“, sagt Kilian. „Diese Weite ist in Europa schwer zu finden, und es hat mich einfach gereizt, mehr darüber zu lernen und sie besser kennenzulernen. Außerdem ist die Kombination der verschiedenen Terrains, die von hohen Gipfeln bis zu staubtrockenen Wüsten reichen, eine neue Erfahrung für mich. Ich freue mich darauf, all dies zu entdecken. Man fühlt sich dadurch als Teil von etwas Größerem.“

Mit States of Elevation will Kilian einerseits seine eigene Neugier stillen. Andererseits tut er es aber auch für uns. Für ihn bedeuten extreme Herausforderungen auch extreme Freude. Abenteuer nähren ihn. In seiner Welt stellt sich nicht die Frage, warum er so etwas tut – oder warum er in Zukunft noch verrücktere Abenteuer angehen wird. Er braucht solche Herausforderungen wie andere Sauerstoff. Sie sind sein Leben.

Gleichzeitig weiß Kilian um seine Wirkung auf andere Menschen. Immer wieder bekommt er diese eine Frage gestellt: „Warum?“ Doch er hat keine einfache Antwort darauf. Lebensverändernde Erkenntnisse lassen sich nicht auf leicht verdauliche Weise vermitteln. Antworten findet Kilian immer nur in der wilden, unbezähmbaren Natur – und er ist sich sicher, dass auch wir sie dort finden werden.

„Ich glaube, solche Abenteuer können Menschen dazu inspirieren, die Natur mit anderen Augen zu sehen und sie mehr zu schätzen“, sagt Kilian. „Wenn mich jemand sieht und denkt: ‚Ich will nach draußen gehen, die Natur erkunden und mich um sie kümmern’, dann ist meine Aufgabe erfüllt.“

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Nick Danielson, Julen Raison und David Ariño.